Dr. Anja Fengler ist die therapeutische Leiterin des Cochlea-Implantat-Zentrums Leipzig.
Wir freuen uns sehr, sie für ein schriftliches Interview gewonnen zu haben, in dem wir näher auf die Hörfähigkeit in Verbindung mit dem kindlichen Spracherwerb eingehen.
Liebe Frau Fengler, was waren Ihre bedeutendsten beruflichen Stationen und wie kamen Sie zu Ihrer aktuellen Position im Cochlea Implantat Zentrum
Leipzig?
Nach meinem Studium der Patholinguistik an der Universität Potsdam forschte ich am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig zu den Grundlagen der Sprachentwicklung und promovierte 2015 in Kognitionswissenschaften. Anschließend war ich wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Pädagogik bei Sprach- und Kommunikationsstörungen an der Universität Leipzig und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gleichzeitig arbeitete ich als Therapeutin mit Kindern mit Hör-, Sprach- und Sprechstörungen. 2018 wollte ich mehr über die Sprachverarbeitung bei Erwachsenen mit Hörstörungen erfahren. Seit 2020 kann ich mein Forschungsinteresse mit meiner Arbeit als Leiterin des Cochlea-Implantat-Zentrums Leipzig verbinden. Dort behandeln wir Kinder und Erwachsene mit hochgradigem Hörverlust, die durch ein Cochlea-Implantat (wieder) hören lernen.
In welchem Alter entwickeln Kinder typischerweise grundlegende Hör- und Sprachfähigkeiten?
Die Entwicklung der Hör- und Sprachfähigkeit beginnt im Mutterleib. Bereits im Bauch, etwa ab dem siebten Monat, lernen Kinder, Geräusche wahrzunehmen. Dazu gehören die Stimme der Mutter, das Rauschen des Blutes und der Herzschlag, aber auch Töne aus dem Umfeld, die sie durch die Bauchdecke hören. Da sie die Stimme der Mutter besonders häufig hören, kann diese nach der Geburt wiedererkannt werden. Schon in den ersten drei Lebensmonaten zeigen Kinder ein Erschrecken auf laute Geräusche. Bis zum sechsten Lebensmonat beginnen sie zu gurren und zu brabbeln. Des Weiteren ist zu beobachten, dass sie den Kopf zur Schallquelle drehen und sich bei unangenehmen Geräuschen abwenden. Bis zum 12. Lebensmonat sind Kinder in der Lage, einfache Wörter wie "Nein" und "Tschüss" zu verstehen und erkennen ihren eigenen Namen. Sie bilden erste Silbenketten und verwenden erste Gesten. Die ersten Wörter wie "Mama" und "Papa" können auch schon ausgesprochen werden.
Bis zum 18. Lebensmonat sind Kinder in der Lage, einfache Aufträge wie "Wo ist dein Ball" zu verstehen. Im Verlauf des zweiten Lebensjahres beginnen sie, die ersten verständlichen Wörter zu sprechen und vertraute Personen und Objekte zu benennen.
Bis zum Ende des zweiten Lebensjahres verstehen Kinder in der Regel komplexere Anweisungen und können darauf reagieren. Sie bilden die ersten Zweiwortäußerungen und benennen
immer mehr Dinge. Mit zwei bis drei Jahren erweitern Kinder ihren Wortschatz und beginnen ihre Bedürfnisse immer klarer auszudrücken.
Jedes Kind entwickelt sich in seinem eigenen Tempo. Eine zeitliche Verzögerung oder das Nichterreichen dieser Meilensteine kann jedoch ein Hinweis auf eine Hörbeeinträchtigung und/oder
Sprachentwicklungsverzögerung sein.
Wie wirken sich Hörbeeinträchtigungen oder eine Hörstörung auf die Sprachentwicklung aus?
Hörbeeinträchtigungen oder Hörstörungen können die Sprachentwicklung von Kindern erheblich beeinflussen.
- Kinder mit Hörstörungen lernen oft langsamer sprechen, weil sie die Sprache ihrer Umgebung nicht oder nur eingeschränkt hören. Dadurch haben sie Schwierigkeiten, Laute, Wörter und Sätze nachzuahmen und zu lernen.
- Da sie weniger Wörter hören, entwickeln sie oft einen kleineren Wortschatz und ohne ein klares Hören von Lauten und Wörtern ist es schwierig, diese richtig auszusprechen. Das Erlernen grammatikalischer Strukturen ist herausfordernd, da sie die Regeln und Muster der Sprache nicht vollständig wahrnehmen können.
- In der Schule ist das Erlernen von Lesen und Schreiben schwierig, da diese Fähigkeiten stark mit dem Hören verbunden sind. Kinder mit Hörbeeinträchtigungen haben auch Schwierigkeiten, dem Unterricht zu folgen und mündliche Anweisungen zu verstehen.
- Hörprobleme können auch zu sozialer Isolation und Frustration führen, da die Kommunikation mit anderen Kindern und Erwachsenen erschwert wird. Ihnen gelingt es oft nicht, sich aktiv an Gesprächen zu beteiligen und sie fühlen sich ausgeschlossen. Kinder mit Hörstörungen haben häufiger Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen und aufrechtzuerhalten.
Eine frühzeitige Erkennung und Unterstützung durch Hörgeräte, Hörfrühförderung oder spezielle Sprachtherapie können helfen, diese Schwierigkeiten zu überwinden und die Sprachentwicklung zu fördern.
Was sollten pädagogische Fachkräfte und Eltern beobachten, um mögliche Hörschwierigkeiten frühzeitig zu erkennen?
Hörstörungen bei Kindern können sich auf verschiedene Weisen bemerkbar machen. Eltern und pädagogische Fachkräfte sollten u. a. auf folgende Anzeichen achten:
- Reagiert das Kind auf laute Geräusche, dreht es sich um, wenn es angesprochen wird?
- Verläuft die Sprachentwicklung langsamer als bei Geschwistern oder Gleichaltrigen? Ist die Aussprache undeutlich?
- Schaut das Kind beim Sprachverstehen viel auf den Mund, da es das Lippenlesen unterstützend nutzt?
- Wirkt das Kind unaufmerksam, hat es Schwierigkeiten, Anweisungen zu folgen?
- Zieht sich das Kind häufig zurück oder zeigt es Frustration, weil es Schwierigkeiten hat, sich mitzuteilen?
- Hat das Kind Schwierigkeiten in der Schule, insbesondere beim Verstehen mündlicher Anweisungen oder beim Lernen neuer Wörter?
- Ist nach der Schule erschöpft, weil es sich konzentrieren muss, um Sprache zu verstehen.
Was können Fachkräfte tun, um Kinder mit Hörschwierigkeiten gezielt in ihrer sprachlichen Entwicklung zu unterstützen?
Jedes Kind ist einzigartig, daher müssen die Fördermaßnahmen individuell auf die spezifischen Bedürfnisse des Kindes abgestimmt werden. Entscheidend sind eine frühzeitige Diagnose und die Versorgung u. a. mit Hörgeräten und Cochlea-Implantaten. Je früher eine Hörstörung erkannt und behandelt wird, desto besser sind die Chancen für eine normale Sprachentwicklung.
Eine intensive Frühförderung durch spezialisierte Sprachtherapeutinnen oder Pädagoginnen kann helfen, die Hör- und Sprachfähigkeiten zu entwickeln. Der Einsatz von
visuellen Hilfsmitteln wie Bildern und gebärdenunterstützte Kommunikation kann die Kommunikation erleichtern und die Sprachentwicklung unterstützen.
Förderangebote sollten alltägliche Aktivitäten und Gespräche nutzen, um die Sprachfähigkeiten in natürlichen Kontexten zu üben. Die Eltern (und andere Bezugspersonen) sollten unbedingt in die
Förderung einbezogen werden. Sie können lernen, wie sie ihr Kind zu Hause unterstützen können. Es ist auch wichtig, dass entsprechend spezialisierte Fachkräfte die Hörgeräte und Sprachprozessoren
von Cochlea-Implantaten regelmäßig überprüfen und anpassen, damit die Geräte optimal funktionieren. Gemeinsam kann dort auch besprochen werden, inwieweit der Einsatz zusätzlicher technischer
Hilfsmittel, wie z.B. eines drahtlosen akustischen Übertragungssystems, die Kinder bei der Bewältigung ihrer alltäglichen Hörprobleme unterstützen kann.
Wir bedanken uns ganz herzlich bei Anja Fengler für die wertvollen Einblicke und praxisnahen Empfehlungen rund um das Thema Sprache und Hörfähigkeit.
Bildquellen: Pexels