Expertinnen-Interview zu Kamishibai in Kita, Kindertagespflege und Hort (Newsletter August 2024)

Carmen Sorgler ist qualifizierte Kamishibai-Erzählerin und -Trainerin, Journalistin und Inhaberin der Agentur „pfiff – Pressefrauen in Frankfurt". Im Interview bringt uns Carmen Sorgler die faszinierende Welt des Kamishibai näher. Erfahren Sie, wie das traditionelle japanische Papiertheater die sprachliche Bildung bei Kindern von 0 bis 12 bereichern kann und erhalten Sie erste Impulse für die Umsetzung in der pädagogischen Praxis.


Frau Sorgler, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit Kamishibai. Welches Stück hat Sie bisher am meisten fasziniert und warum?

Das ist tatsächlich eine sehr einfache Geschichte für Kinder ab zwei Jahren. Sie heißt „Groß, größer, noch größer“ und ist in Japan die meistverkaufte Geschichte - ein Klassiker! Auf acht Bildkarten, die sehr einfach und reduziert illustriert sind, gibt es gleich mehrere Überraschungen, entgegen unserer Erwartung. So wird diese einfache Geschichte spannend, hält die Kinder konzentriert und wir wollen tatsächlich wissen: Wie geht das denn weiter? Durchdachte Erzählkunst von Anfang bis Ende – für Zweijährige wie für 99-Jährige.

 

 

Was genau ist ein Kamishibai und wie unterscheidet es sich von anderen Erzählmethoden?

Kamishibai ist ein Holzrahmen mit zwei oder drei Türen, durch den Bildkarten gezogen werden: eine kleine, mobile Bühne für die Bildergeschichte, die sich durch das (seitliche) Ziehen der Karten entwickelt. Die Türen, die sich öffnen und wieder schließen, sind wie der Theatervorhang, der sich hebt und am Ende wieder senkt. Beim Kamishibai steht die Erzählerin/der Erzähler seitlich neben dem Butai, dem Rahmen, hält Blickkontakt mit den Kindern und ist in enger Verbindung mit ihnen.
Der Text steht hinten auf den Bildkarten und kann idealerweise durch die offene Rückwand gut gelesen oder erinnert werden, ohne dass der Kontakt zum Publikum verlorengeht. Dabei ist die Erzählerin bzw. der Erzähler jedoch nicht die Hauptperson. Sie vermittelt nur zwischen den Hauptfiguren in der Geschichte und den Kindern. Die Geschichte selbst steht im Mittelpunkt, nicht die Erzählerin oder der Erzähler. Die Kinder sollen von den Bildern nicht durch besondere schauspielerische Leistungen abgelenkt werden
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Inwiefern kann der Einsatz von Kamishibai zur sprachlichen Bildung/Förderung der Kinder beitragen?

Kamishibai-Geschichten zeichnen sich durch ihre Reduziertheit in Illustration und Text aus. Text und Bild sind passgenau. Die Kinder hören, was sie sehen. Sie sehen, was sie hören. Das fördert sprachliche Bildung oder Spracherwerb natürlich sehr. Außerdem lassen sich beim Kamishibai-Erzählen sehr gut sprachfördernde Strategien einsetzen, die das Identifizieren von besonderen Wörtern und das Verstehen beim Erzählen erleichtern: durch langsames Sprechen, Pausen oder bestimmtes Betonen und Zeigen. In anderen Erzählarten ergänzen sich Text und Bild, ist der Text auch sehr viel länger und beschreibt, was auf dem Bild nicht zu sehen ist. Für mich ist das Erzählen für Fortgeschrittene. Kamishibai ist der Einstieg und nimmt alle Kinder mit, und gerade die, die gerade erst anfangen, Deutsch zu erlernen.

 

 

Für welche Altersgruppen und Entwicklungsstufen ist Kamishibai besonders geeignet?

Kamishibai-Geschichten gibt es für Kinder unter drei Jahren. Sie sind seriell aufgebaut, haben also keinen Anfang, Mittelteil und ein Ende, wie wir es von klassischen Geschichten kennen. Das wäre schon zu komplex für diese Altersstufe. Sie bestehen aus nur acht Bildkarten und sind oft Mitmachgeschichten, die es Kindern leicht machen, mit ihrer Konzentration bei der Geschichte zu bleiben. Für Kinder ab drei/vier Jahren gibt es Erzählgeschichten mit der typischen Erzählstruktur. Sie bestehen aus 12 Bildkarten. Hier sind Bilder, Text und die Geschichte schon komplexer, aber immer noch nach dem Prinzip gestaltet: reduziert in den Details, aber stark im Ausdruck der Gefühle.

 

 

Wie können Kamishibai-Geschichten im Hinblick auf kontinuierliche sprachliche Bildung effektiv in den Kita-Alltag integriert werden?

Indem sie immer wieder mit Freude erzählt werden, um anschließend mit den Kindern darüber und über immer neue Themen, die die Kinder in den Geschichten entdecken, zu sprechen. Natürlich braucht es dazu ausreichend Zeit und den nötigen Freiraum im Kita-Alltag – und eine ruhige, ungestörte Ecke ohne Ablenkung für die Vorführung.

 

 

Wie können Kinder aktiv in die Gestaltung und das Erzählen von Kamishibai-Geschichten eingebunden werden?

Kinder können zum Beispiel eine Geschichte, die sie gut kennen, selbst vorführen. Oder eine einfache serielle Geschichte fortsetzen, dazu die nächsten Karten malen sowie den dazugehörigen Text der Erzieherin diktieren, die ihn notiert. Größere Kinder könnten ein anderes Ende der Geschichte erfinden und daran gemeinsam in einer Gruppe arbeiten. Oder als Projekt: eine neue Geschichte mit Text und Bildern erfinden und dann gemeinsam vorführen.

 

 

Welche Fortbildungsmöglichkeiten gibt es für Pädagoginnen, die den Einsatz von Kamishibai in ihrer Einrichtung vertiefen möchten?

Da gibt es zum Beispiel die Fortbildungsreihe von dem Träger Le Jardin, einer multilingualen Kindereinrichtung aus Frankfurt a. M., der Kamishibai in all seinen Einrichtungen stark fördert und auch mehrsprachig nutzt. Die Fortbildungen werden bundesweit sowohl online als auch in Präsenz in Frankfurt angeboten: Basis-Modul (Erzählkunst Kamishibai kennenlernen und damit arbeiten), Modul II (Sprachbildung fördern mit Kamishibai) und Modul III (Geschichten selbst erfinden).