Newsletter 02/2019: Interview zu "Spielen" mit Margit Franz

Margit Franz ist Diplom-Pädagogin, Autorin, Fachreferentin und Herausgeberin des Fachmagazins für kindzentrierte Pädagogik „Praxis Kita“. In zahlreichen Publikationen hat sie sich umfassend mit dem Thema „Spielen“ beschäftigt. Ihr Buch „Heute wieder nur gespielt - und dabei viel gelernt!“ macht die Bedeutung des kindlichen Spiels deutlich. In unserem Interview mit ihr haben wir interessante und spannende Dinge über das Spiel erfahren, welche wir gerne mit Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, teilen möchten.

       Was ist eigentlich Spielen?

Spielen ist die Haupttätigkeit des Kindes oder, wie Maria Montessori sagen würde, die „Arbeit des Kindes“. Spielen gehört vermutlich zu den ältesten Kulturtechniken des Menschen. Seinen Spieltrieb teilt der Mensch mit vielen anderen Säugetieren, denken wir an Hunde-, Katzen-, Löwen-, Affenbabys. Weil die Evolution dieses Verhalten hervorgebracht hat, ist der Drang zum Spielen tief im Menschen verwurzelt. Kein Menschenkind muss zum Spielen angeregt, motiviert oder aufgefordert werden. Es spielt einfach - überall und jederzeit.

 

 

         Warum spielen Kinder?

Kinder spielen, weil es ihnen jede Menge Spaß und Lust bereitet. Im Spiel erfahren sie sich als selbstbestimmte Subjekte und erleben vielfältige Selbstwirksamkeitserfahrungen. Kinder sind von Natur aus neugierig und Neugierde ist die bekanntermaßen die beste Didaktik der Welt. Unermüdlich probieren sie Neues aus und sammeln auf diese Weise wertvolle Lebenserfahrungen. Spielendes Lernen ist ein lustvolles, ganzheitliches und bewegungsreiches Lernen mit allen Sinnen. Ganz besonders wichtig sind der sogenannte Unsinn und Blödsinn

Spielen und Entwicklung sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn wir die Entwicklung von Kindern aufmerksam begleiten und ihnen Zeit für Entwicklung geben, ist es nahezu ausgeschlossen, dass sich Kinder im eigenaktiven, selbstbestimmten Spiel über- oder unterfordern. Spielen findet meist in der „Zone der nächsten Entwicklung“ (Lew Wygotsky) statt, nämlich da, wo es anfängt zu kribbeln: Noch ein bisschen höher, noch ein bisschen weiter, noch ein bisschen schneller …

 

 

          Welches Lernpotenzial bietet Spielen insbesondere für die sprachliche Entwicklung?

Spielen ist ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung auf allen Ebenen und in allen Entwicklungsbereichen. Spielen fördert die kreativen, sozialen, emotionalen, motorischen, lebenspraktischen, kognitiven, sprachlichen, kulturellen, mathematischen, naturwissenschaftlichen und technischen Kompetenzen des Kindes.

 

Das Spiel hat eine hohe Bedeutung für die Sprachentwicklung von Kindern. Jede Spielhandlung ist immer auch eine komplexe Sprachlernsituation. Im Spiel versuchen Kinder ihre Wünsche, Gedanken und Gefühle zu verbalisieren. Je präziser sich ein Kind ausdrücken kann umso differenzierte Spielhandlungen sind möglich. Spielregeln werden verhandelt und insbesondere im Rollenspiel wird besprochen, wie miteinander gespielt wird. Insbesondere funktionsoffene Materialien wie Holzbauklötze, Baumscheiben, Steine erfordern, dass ihre Bedeutung im Sinn besprochen und geklärt wird: „Der Stein soll jetzt unser Essen sein und die Blätter unser Geld.“ Zugleich fördert das Spiel auch nonverbale Ausdrucksformen wie Körpersprache, Gestik und Mimik, so dass Kinder mit unterschiedlichen sprachlichen Hintergründen dennoch miteinander spielen können.

 

 

          Welche Spielformen schätzen Sie als besonders bedeutend im Krippen- und Kindergartenalter ein?

Je jünger Kinder sind, umso mehr erkunden und entdecken sie die Welt. Alle Gegenstände, Materialien, Phänomene sind für sie gleichermaßen interessant. Wie klingt ein Bauklotz, wenn er auf den Teppichboden, die Treppenstufen oder den Heizkörper geklopft wird? Was hat es mit dem Schlüsselbund auf sich, den Erwachsene immer in ihren Händen halten? Wie spannend, immer wenn ich auf den Lichtschalter drücke geht das Licht an und dann wieder aus! Was sind das für dunkle Flecken auf dem Fußboden, die manchmal flimmern, sich bewegen und plötzlich verschwunden sind? (Schatten) Wenn wir uns in die Perspektive eines jungen Kindes versetzen und uns vorstellen, dass wir ganz neu auf dieser Welt sind und alles zum ersten Mal wahrnehmen, wird uns deutlich, was es bedeutet Kind zu sein. Alles, wirklich alles muss auf seine Eigenschaften entdeckt und erforscht werden. Jedes Ding ist ein interessanter Forschungsgegenstand, der ausreichend exploriert werden muss, damit später mit ihm gespielt werden kann.

 

Somit sind das Explorations- und Funktionsspiel die frühen Spielformen der Kindheit. Damit eng verbunden sind die elementaren Spielhandlungen, mit denen ein Kind vielfältige Denkwerkzeuge entwickelt. Typische Schemata von Kindern, die sie häufig in ihren Spielen anwenden, sind „Ein- und Ausräumen“, „Transportieren“, „Ein- und Auswickeln“, „Eingießen und Ausgießen“, „Mischen und Sortieren“, „Stapeln und Schichten“, „Ziehen und Schieben“. Eine Handlung, wie beispielsweise das „Ein- und Auspacken“, kann in unterschiedlicher Weise, mit verschiedenen Objekten oder auch der eigenen Person (in Form von An- und Ausziehen) geschehen.

 

Eine weitere wichtige Spielform in der frühen Kindheit ist das Bewegungsspiel. Kinder haben einen enormen Bewegungsdrang und große Lust an der Bewegung. So ganz nebenbei trainieren sie ihren Körper, entwickeln Körpergefühl, Körperbewusstsein, Ausdauer, Kraft und lernen ihre körperlichen Grenzen kennen.

 

Das Symbol- oder Als-ob-Spiel ist bei jungen Kindern sehr gut zu beobachten, wenn sie beispielsweise einen Bauklotz an ihr Ohr halten und so tun, als ob sie telefonieren. Dabei tun sie so, als ob sie ihre Mama oder ihr Papa sein. Gestik, Mimik, Tonfall sind manchmal so überzeugend, dass man das Gefühl hat, hier telefoniert wirklich Frau Meyer oder Herr Weber. Beim Als-ob-Spiel geht vor allem um die Nachahmung anderer Menschen oder auch Tiere. Wenn ein Bauklotz zum Symbol für ein nicht zur Verfügung stehendes Smartphone wird, wird dieser mit einer anderen symbolischen Bedeutung versehen. Diese spielerische Symbolisierung setzt die kognitive Fähigkeit voraus, ein abwesendes Objekt (Smartphone) gedanklich präsent zu haben. Mit Hilfe der Vorstellungskraft wird das Prinzip „Aus den Augen, aus dem Sinn“ durch die Fähigkeit der Objektpermanenz abgelöst. Ein Meilenstein in der kognitiven Entwicklung.

 

Eine weitere wichtige Spielform ist das Konstruktionsspiel, bei dem etwas gebaut, gestaltet und hergestellt wird. Beim Bauen werden Materialien wie Bausteine immer wieder neu verwendet. Bei künstlerischen Aktivitäten hingegen werden Materialien verbraucht. In Bauspielen wird dreidimensional und beim Zeichnen und Malen zweidimensional konstruiert.

 

Aus dem Als-ob-Spiel entwickelt sich das fantasievolle Rollenspiel. Das Kind kann nun in jede beliebige Rolle schlüpfen und dabei erleben, wie es sich anfühlt, liebevolle Mama, schreckliches Monster oder bellender Hund zu sein. Es ahmt nicht nur nach, sondern identifiziert sich ganz und gar mit seiner Rolle, manchmal über Wochen hinweg. Im Rollenspiel kann das Kind alles das ausprobieren, was ihm im realen Leben (noch) nicht möglich ist. Spielend inszeniert es Situationen und verarbeitet damit positive wie auch negative Erlebnisse. Deshalb hat das Rollenspiel eine hohe psychohygienische Funktion. Besonders zu erwähnen ist, dass rollenspielende Kinder sehr viel miteinander aushandeln, diskutieren und streiten müssen, damit sie zusammenspielen können. Während des gesamten Prozesses wird das Spiel immer wieder unterbrochen, um zu klären, wie jetzt weitergespielt werden soll: „Das wäre jetzt unsere Wohnung und du sollst jetzt nach Hause kommen und so tun, also ob …“ Der sprachförderliche Charakter des Rollenspiels ist deshalb von besonders großem Wert.

Im Alter von etwa fünf Jahren gewinnt das Regelspiel an Bedeutung.

 

 

         Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Spiel stattfinden kann?

Damit Kinder ihre Spielkompetenz entfalten können benötigen sie genügend Raum, entwicklungsangemessene Materialien und ausreichend Zeit für ungestörtes Spielen. Spielen braucht unverplante Zeit, damit Kinder in vertiefte Spielprozesse kommen können. Wenn Kinder in ihrem Spiel ständig unterbrochen werden, hat dies negative Auswirkungen auf ihr Spielverhalten.

 

 

          Wie können pädagogische Fachkräfte das Spiel der Kinder unterstützen bzw. erweitern?

Als grundlegend wichtig erachte ich, dass sich Erwachsene dafür interessieren, wofür sich Kinder interessieren. Fachkräfte sollten nicht nur beobachten, was Kinder spielen, sondern auch wahrnehmen und erkennen wie sie spielen: Wie interessiert, engagiert und konzentriert spielen Kinder? Wie teilen sich die Kinder mit? Wie meistern sie Herausforderungen? Welche Spielgemeinschaften bilden die Kinder? Wo spielen bevorzugt die Mädchen und wo die Jungs? In welchen Situationen bzw. zu welcher Uhrzeit treten gehäuft Konflikte auf? Welche Spielbereiche und Spielmaterialien sind besonders begehrt?

 

Solche Beobachtungen bilden die Grundlage, um Raum- und Tagesstrukturen zu entwickeln, die sich an den Bedürfnissen der Kinder orientieren und konstruktive Spielprozesse ermöglichen. Die Hauptaufgabe besteht also darin, fördernde Bedingungen für vielfältige, anregende Spiele zu schaffen und Kinder bei der Verwirklichung ihrer Spielideen und der Erweiterung ihrer Spielfähigkeit zu unterstützen. Es geht nicht darum Kinder zu bespielen, zu bespaßen und zu beschäftigen, sondern eine Atmosphäre zu gestalten, in der Kinder gut und ausgiebig spielen können, dabei Spaß haben und gut beschäftigt sind.

 

 

Publikationen von und mit Margit Franz zum Thema „Spielen“: